An einem verregneten Julimorgen trifft sich die Klasse 9c gemeinsam mit zwei Lehrkräften der RSE vorm Amtsgericht Obernburg. Prozesse sind in der Regel öffentlich, und da das wahre Leben mitunter spannender sein kann als TikTok, wird die Möglichkeit genutzt, einer Gerichtsverhandlung beizuwohnen. Von den Zuschauerrängen aus, nicht von der Anklagebank.
Bevor es in den Verhandlungsraum geht, durchläuft man unter den kritischen Augen einer Justizbeamtin einen Sicherheitscheck. Öffnen Sie bitte mal ihren Rucksack, Herr Schuster; jetzt durch den Metalldetektorbogen, biep biep, nochmal zurück bitte, tragen Sie einen Gürtel? Man wähnt sich am Flughafen, und nach dem Durchlaufen des Sicherheitschecks ist man versucht nach dem Abfluggate zu fragen und sich einen Tomatensaft zu bestellen.
Statt in den A320 nach Palma de Mallorca geht es in den Verhandlungsraum. Da ist´s ein bisschen wie im Klassenzimmer. Vorne sitzen die Alleinunterhalter, hinten die Zuschauer. Diejenigen, ohne die eine Gerichtsverhandlung nicht möglich wäre, sind auch schon da: Der Richter, zu seiner Rechten und Linken jeweils ein Schöffe, weiter ein Staatsanwalt, eine Protokollantin und dann natürlich der Angeklagte mit seinem Anwalt. Der Angeklagte ist natürlich sofort The Person of Interest. Der sieht ja jetzt nicht aus wie Charles Manson oder der Kannibale von Rotenburg, was wird da jetzt heute wohl verhandelt? Hoffentlich nicht nur so ein Nachbarschaftsstreit, bei welchem die Thuja-Hecke auf das Grundstück des anderen gewuchert ist. Ah okay, illegaler Waffenbesitz und Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz, das klingt jetzt nicht ganz so uninteressant.
Dann geht’s los. Nachdem die Anklage verlesen wurde, dürfen alle Beteiligten sprechen. Der Verteidiger ergreift in der Regel das Wort für den Angeklagten, Richter und Staatsanwalt stellen Verständnisfragen, zwischendurch betreten zwei Zeugen den Gerichtssaal und machen Aussagen. Derweil tippt sich die Protokollantin die Finger wund, jede noch seine kleine Aussage wird dokumentiert. Ein bisschen wie bei Barbara Salesch oder Alexander Hold, nur eben nicht im Privatfernsehen, sondern diesmal in echt. Der Angeklagte ist von Beginn an geständig, was auch dazu beiträgt, dass diese Hauptverhandlung relativ schnell über die Bühne geht. Am Ende wird eine Bewährungsstrafe ausgesprochen, die in ihrer Milde möglicherweise einige erstaunt, aber gleichzeitig auch zeigt, dass das deutsche Rechtssystem den Straftäterinnen und Straftätern in den allermeisten Fällen die Chance zur Rehabilitation bietet.
Nachdem die Verhandlung geschlossen ist, bietet sich der Klasse noch die Möglichkeit, dem Richter Fragen zu stellen. Ob er, der Richter, diesen Job denn nochmal wählen würde. Er schmunzelt. Früher habe er für eine Großkanzlei gearbeitet, 80 Stunden Woche (die anwesenden Lehrer seufzen, sie wissen genau, wovon er redet), jetzt hätte er geregeltere Arbeitszeiten und das sei ja so schlecht auch nicht.
Damit geht ein spannender Vormittag zu Ende und alle sind dankbar, einen Einblick ins deutsche Justizsystem bekommen zu haben und den Verhandlungsraum nicht in Handschellen verlassen zu müssen. Lieber Gefängnis oder lieber Schule? Eine Frage, welche die Klasse 9c auf dem Heimweg noch etwas umtreibt.
David Schuster